Deutschland investiert, die Schweiz pflegt Mythen
Deutschland wird nächste Woche aller Voraussicht nach die Schuldenbremse lockern, damit ein milliardenschweres Finanzierungspaket für Investitionen in die Verteidigung und die Infrastruktur verabschiedet werden kann. Die Anpassung der deutschen Schuldenbremse ist in den letzten Monaten sowohl von der deutschen Bundesbank, vom Internationalen Währungsfonds (IWF), der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und vom deutschen Sachverständigenrat Wirtschaft gefordert worden. Mit dem Paket reagiert Deutschland auf die veränderte geopolitische Lage und die nach den Wahlen in den USA nochmals gestiegene Unsicherheit in Europa.
Die Schweiz hingegen wartet weiter ab und versteckt sich hinter ihrer eigenen Schuldenbremse, die noch restriktiver ausgestaltet ist als ihre deutsche Schwester. Selbst das im europäischen Vergleich bescheidene Ziel, die Verteidigungsausgaben rasch auf ein Prozent des Bruttoinlandprodukts zu erhöhen, ist nur mit umfangreichen Ausgabenkürzungen in anderen Aufgabenbereichen erreichbar. Es ist deshalb ungewiss, ob und wann es erreicht wird. Dabei wäre es gerade für die wohlhabende Schweiz dank ihrer Wirtschaftskraft, der tiefen Staatsverschuldung und des hohen Sparüberhangs ohne Risiken möglich, mit der Aufnahme von Krediten zusätzliche Investitionen in die Verteidigung zu finanzieren und die zivile Unterstützung der Ukraine massiv auszubauen. Auch für dringend notwendige Investitionen in den Klima- und Artenschutz wäre eine zusätzliche Verschuldung durchaus angezeigt. Stattdessen übertreffen sich Mitglieder des Bundesrats und des Parlaments regelmässig mit Glaubensbekenntnissen an die Schuldenbremse, als sei sie die alleinig selig machende Verfassungsbestimmung der Schweiz. Nicht überraschend werden deshalb zahlreiche Mythen herumgeboten, weshalb der Bund auf keinen Fall neue Kredite aufnehmen soll.
Mythos 1: Neue Schulden belasten zukünftige Generationen.
Das Argument mag zwar auf Wahlpodien, in Reden und in Medienkommentaren gut klingen. Aus ökonomischer Sicht ist es jedoch Unsinn. Zum einen werden die Kosten der Staatsschulden nicht von zukünftigen, sondern von heutigen Generationen getragen. Denn die jährlichen Schuldzinsen fallen im Staatshaushalt sofort an, und nicht erst in 20 bis 30 Jahren. Sie belasten deshalb, je nach Laufzeit der Schuldpapiere, in erster Linie die heutigen Steuerzahler:innen. Das gilt auch für die Abschreibungen der mit neuen Schulden finanzierten Investitionen. Auch sie sind, je nach Lebensdauer der Investitionsgüter, von den aktiven Steuerzahlenden zu tragen. Das ist auch richtig so. Denn mit Staatsschulden finanzierte Investitionen stiften einen langjährigen Nutzen für die Gesellschaft. Sie erhöhen die Verteidigungsfähigkeit und somit die Sicherheit der Schweiz, verbessern das Klima und die Biodiversität oder bauen die Verkehrs- und Versorgungsinfrastruktur aus. Öffentliche Güter also, von denen überdies auch zukünftige Generationen profitieren.
Des Weiteren sind die Schulden des Staates gleichzeitig die Vermögen der Sparer:innen. Das gilt insbesondere für die Schweiz, wo der weitaus grösste Teil der Bundesobligationen von Schweizer Anleger:innen gehalten werden. Sie befinden sich als sichere Anlagen in zahlreichen Wertschriftenportfolios von Pensionskassen und Privaten. Zudem wird in der Schweiz seit Jahren mehr gespart als investiert, was sich auch in den anhaltenden Leistungsbilanzüberschüssen und einem hohen Nettoauslandsvermögen der Schweiz zeigt. Es wäre somit in der Schweiz genügend Kapital zur Finanzierung von höheren Investitionen des Staates vorhanden. Es ist paradox: womöglich werden in den nächsten Jahren zahlreiche Schweizer Privatanleger:innen und Pensionskassen neue Schuldpapiere von Deutschland und anderen EU-Staaten in ihren Büchern halten, und damit deren Aufrüstung finanzieren. Höhere Anteile an Bundesobligationen werden hingegen vermutlich fehlen, weil es sie - Schuldenbremse sei Dank - schlichtweg nicht geben wird. Zum Glück sind für zahlreiche Aufgabenbereiche des Staates wie das Bildungs- oder das Gesundheitswesen nicht der Bund sondern die Kantone zuständig. Sie kennen zwar auch Schuldenbremsen. Diese sind jedoch in den seltensten Fällen so restriktiv ausgestaltet wie beim Bund; aus Vernunft vermutlich. Denn ohne Fremdkapital könnte wohl kaum ein Kanton oder eine Gemeinde ihre Investitionen in Bauten und Infrastruktur finanzieren.
Der Mythos lebt auch von der Vorstellung, dass irgendwann in der Zukunft die Schulden zurückbezahlt werden müssen, und dass dafür zukünftige Generationen Steuergelder einsetzen müssen, die ihnen für andere Aufgaben fehlen würden. Staatsschulden werden aber am Ende ihrer Laufzeit selten zurückbezahlt, sondern im Hinblick auf weitere Investitionen refinanziert. Abgebaut werden Staatschulden hingegen sukzessive durch das Wirtschaftswachstum, da in einer wachsenden Volkswirtschaft die Schuldenquote, das heisst das Verhältnis zwischen einer bestimmten Schuldenhöhe und dem BIP, stetig sinkt. Selbst wenn Politiker:innen auf Teufel komm raus dem Mythos huldigen wollen, dass durch neue Staatsschulden die zukünftigen Generationen belastet werden, so müssten sie zumindest anerkennen, dass diese vermeintliche Belastung durch das Wirtschaftswachstum stetig sinkt.
Mythos 2: Durch den Schuldenabbau wird finanziellen Spielraum für zukünftige Krisen geschaffen.
Spare in der Zeit, so hast du in der Not. Tatsächlich hat der Bund seit der Einführung der Schuldenbremse gespart und bis zum Beginn der Corona-Pandemie fast 30 Milliarden Franken an Schulden abgebaut. Die zahlreichen Unterstützungsprogramme für Private und Unternehmen zur Abfederung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Massnahmen führten jedoch zu umfangreichen ausserordentlichen Ausgaben, welche gemäss Schuldenbremse bei unvorhersehbaren Entwicklungen möglich sind. Die Schulden des Bundes stiegen deshalb bis im Jahr 2023 wieder um rund 30 Milliarden Franken an. Doch wer nun denkt, dass die Einsparungen der vorangehenden Jahre quasi die Corona-Schulden vorkompensierten, der Bund also tatsächlich für eine Krise gespart hatte, sah sich nach der Pandemie getäuscht. Die Corona-Schulden sollen gemäss der Mehrheit des Parlaments in den kommenden Jahren trotzdem wieder zurückbezahlt werden. Das ganze „Sparen in der Zeit“ hat also in der Not nichts genützt. Man hätte darauf verzichten und stattdessen die Steuern senken oder die Ausgaben erhöhen können.
Der Bundesrat und mit ihm die Mehrheit des Parlaments stellen sich jedoch auf den Standpunkt, dass der neuerliche Schuldenabbau notwendig sei, um Spielraum für zukünftige Krisen zu schaffen. Auch dieser Gedankengang ist ökonomisch nicht haltbar. Denn er würde bedeuten, dass sich der Bund in Krisenzeiten nur deshalb am Kapitalmarkt finanzieren kann, weil er vorgängig Schulden abgebaut hat. Während der Corona-Pandemie waren jedoch zahlreiche deutlich stärker verschuldete Staaten als die Schweiz in der Lage, sich auf dem Kapitalmarkt zu finanzieren. Es wäre absurd, wenn ausgerechnet die Schweiz, deren Schuldtitel aufgrund der starken und stabilen Wirtschaft und einer ohnehin vergleichsweise tiefen Staatsverschuldung höchste Bonität geniessen, sich in einer Krise nicht wieder am Kapitalmarkt finanzieren könnte, auch ohne vorgängigen Schuldenabbau. Diese Begründung für die Notwendigkeit eines Abbaus der Corona-Schulden ist pure Angstmacherei.
Mythos 3: Tiefe Staatsschulden führen zu einem höheren Wirtschaftswachstum
Ja, tiefe Staatsschulden sind oft mit einem hohen Wirtschaftswachstum verbunden. Allerdings sind in der Regel nicht tiefere Schulden für ein höheres Wirtschaftswachstum verantwortlich, sondern umgekehrt ein höheres Wirtschaftswachstum für tiefere Schulden. Es kann wissenschaftlich nicht nachgewiesen werden, dass höhere Staatsschulden generell negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und den Wohlstand einer Volkswirtschaft hätten. Die umgekehrte Wirkung ergibt sich hingegen aus einfacher Arithmetik: wie bereits erwähnt sinkt in einer wachsenden Volkswirtschaft ein bestimmter Schuldenstand im Verhältnis zur Wirtschaftskraft stetig. Ausserdem erlauben die mit einem höheren Wachstum einhergehenden höheren Steuereinnahmen eine höhere Selbstfinanzierung von Investitionen und eine höhere Zinslast auf den Staatsschulden. Ohnehin ist gemäss den Erkenntnissen der Wachstumstheorie die Zunahme der Wirtschaftskraft eines Landes in erster Linie durch Forschung und Innovation bedingt. Nicht mehr Beton und Stahl führen primär zu mehr Wohlstand, sondern neue Ideen, Wettbewerb und Kreativität.
Sind somit Schuldenbremsen des Teufels? Nein, Fiskalregeln wie die Schuldenbremse haben ihre Berechtigung. Wesentlich für die Sinnhaftigkeit und Zweckmässigkeit einer Schuldenbremse ist jedoch ihre Ausgestaltung und rechtliche Umsetzung. Im Fall der Schweizer Schuldenbremse herrscht Handlungsbedarf, wie ich in einem früheren Blogbeitrag ausführlich dargelegt habe. In dem seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine stark veränderten geopolitischen Umfeld, und angesichts der mit dem Ausgang der Wahlen in den USA nochmals stark zugenommenen Unsicherheit in der westlichen Welt, würde es aber auch das geltende Regelwerk erlauben, die Staatsschulden zu Gunsten einer raschen Aufrüstung der Schweizer Armee und einer verstärkten zivilen Unterstützung der Ukraine zu erhöhen. Denn das Finanzhaushaltsgesetz (FHG) sieht in Artikel 15 Absatz 1 ausdrücklich vor, dass bei aussergewöhnlichen und vom Bund nicht steuerbaren Entwicklungen Ausgaben über den Plafond der Schuldenbremse hinaus erhöht werden dürfen, was auf eine Fremdfinanzierung herausläuft. Aber offenbar scheinen für den Bundesrat und die Mehrheit des Parlaments weder der Krieg und die von Russland ausgehende Bedrohung noch die immensen Herausforderungen zur Bewältigung der Klimakrise und des Verlusts an Artenvielfalt aussergewöhnliche und vom Bund nicht steuerbare Ereignisse zu sein. Die Welt brennt, doch in der Schweiz herrscht „business as usual“.